Interview mit Johannes Rörig – unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauch

Interview

Von Christine Schniedermann

  1. Erst kürzlich wurden Fälle von Missbrauch im englischen Fußball bekannt, im Magazin „Der Spiegel“ ging es um einen Jungen aus Norddeutschland, der Opfer eines Trainers wurde, erschütternde Zahlen von Übergriffen durch katholische Priester in Australien wurden bekannt. Seit den Skandalen (Odenwald/Ettal, etc.) vor ein paar Jahren hat man den Eindruck, dass zumindest die öffentliche Wahrnehmung auf das Thema sensibler reagiert. Sehen Sie das auch so?

Bis zum Bekanntwerden des sogenannten Missbrauchsskandals im Jahre 2010, als die vielen Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg, der Odenwaldschule oder dem Kloster Ettal unsere Gesellschaft tief erschüttert haben, wurde in Deutschland bei sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu oft weggesehen, es wurde verharmlost und vertuscht. Die breite Öffentlichkeit konnte sich nicht vorstellen, in welchem Ausmaß Erwachsene Mädchen und Jungen sexuell missbrauchen. Seitdem ist die Sensibilität in Kitas, Schulen oder Kirchengemeinden und auch in der Öffentlichkeit gewachsen. Dennoch ist der Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt noch immer nicht gelebter Alltag. Viele tausend Kinder sind weiterhin sexueller Gewalt schutzlos ausgesetzt. Viele Verantwortungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen erst noch begreifen, dass es sich bei Kindesmissbrauch nicht um Einzelfälle handelt und dass das Investment in Prävention, Hilfen und Aufarbeitung eine Daueraufgabe ist.  Ich hoffe sehr, dass die Politik der kommenden Jahre den Kampf gegen Kindesmissbrauch ganz oben auf ihre Agenda setzt!

  1. Warum tut sich Ihrer Beobachtung nach die Kirche oft so schwer mit der Aufklärung?

Über eine lange Zeit hinweg stand offenbar der Institutionenschutz mehr im Vordergrund als der Kinderschutz. Oftmals wurden die Taten Einzeltätern zugeschrieben, aber nicht gesehen, dass die sexuelle Gewalt auch eine strukturelle Komponente hat. Heute investiert die katholische Kirche viel in Prävention, mit der Aufarbeitung tun sich viele kirchliche Einrichtungen aber tatsächlich noch sehr schwer. Wir haben dies unter anderem bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals bei den Regensburger Domspatzen gesehen. Es war wohltuend, endlich zu erleben, wie nach bleiernen Jahren die neue Bistumsleitung unter Bischof Voderholzer Verantwortung übernommen und aus den Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit gelernt hat. Diese heutige Verantwortungsübernahme und der Umgang mit den Betroffenen auf Augenhöhe sind beispielgebend und zeigen, dass es für Aufarbeitung nie zu spät ist. Ich hoffe sehr, dass dieses große Engagement auch im Vatikan Aufmerksamkeit erhält. Am Beispiel der Regensburger Domspatzen sehen wir deutlich, wie wichtig die Haltung der jeweiligen Leitung ist und wie wichtig die Entscheidung der Deutschen Bischofskonferenz nach 2010 war, die Weichen für Prävention, Entschädigung und Aufarbeitung zu stellen.

  1. Immer wieder mahnen Sie an, dass es mehr Präventionskonzepte geben müsste, sich die einzelnen Institutionen wie Schule oder Vereine verstärkt um das Thema Missbrauch kümmern sollen. Warum geschieht das nur langsam? Und was sollte aus Ihrer Sicht noch erfolgen?

Das Ziel – die riesige Dimension des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen einzudämmen – ist noch längst nicht erreicht. Er herrscht noch viel Unsicherheit unter Eltern und Fachkräften, wie sie dem Thema begegnen sollen. Hier setzen auch meine Initiativen „Kein Raum für Missbrauch“ und „Schule gegen sexuelle Gewalt“ an. Wir wollen die Leitungen von Einrichtungen ermutigen, Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt in allen Einrichtungen zu entwickeln, denen Kinder und Jugendliche anvertraut sind. Kitas, Schulen oder Kirchengemeinden dürfen nicht zu Tatorten werden. Sie sollen vor allem zu Schutz- und Kompetenzorten werden, an denen Kinder und Jugendliche  Ansprechpersonen finden, die ihre Signale erkennen und wissen, was bei Vermutung und Verdacht zu tun ist. Dies ist gerade auch für die vielen Mädchen und Jungen wichtig, die sexuelle Gewalt außerhalb der Einrichtung, in der Familie, durch andere Jugendliche und Kinder oder zunehmend durch die digitalen Medien erleiden. Es ist wichtig, dass Schutzkonzepte als  zentrale  Maßnahme der Prävention gesehen werden, als Qualitätsmerkmal einer Einrichtung – und nicht, wie viele glauben, als Reaktion auf einen speziellen Fall. Hier muss dringend ein Umdenken stattfinden.

  1. Eltern fragen sich, wie sie ihre Kinder schützen können. Was raten Sie Ihnen?

Der beste Schutz ist eine liebevolle Erziehung, die alle Bedürfnisse eines Kindes im Blick hat und vor allem das Kind so respektiert, wie es ist. Überbehütung ist der falsche Weg. Sie schränkt Mädchen und Jungen mit ihren Potenzialen ein und schwächt das Selbstvertrauen. Ihnen etwas zutrauen, ihre Selbständigkeit fördern, aber auch im richtigen Moment helfen – das stärkt sie. Kinder brauchen Mütter und Väter, die für sie da sind, sich Zeit nehmen, zuhören und vermitteln, dass nicht alles andere immer wichtiger ist.

  1. Ab welchem Kindesalter sollte man das Thema, dass sexueller Missbrauch möglich ist, ansprechen?

Mit einem Schulkind kann man über sexuellen Missbrauch sprechen. Es geht um eine möglichst unaufgeregte Information und nicht um Warnungen, denn hierdurch entstehen schnell Ängste. Es reicht völlig aus zu erklären, dass manche Menschen Kinder an Scheide, Penis oder Po anfassen oder sie eklig küssen wollen. Wichtig ist dabei die Botschaft, dass das verboten ist und Kinder immer darüber sprechen dürfen, damit man ihnen helfen kann. Bei jüngeren Kindern geht es mehr darum, anlassbezogen zu betonen, dass sie selbst über ihren Körper und Zärtlichkeiten bestimmen dürfen – und niemand sonst. Und dass sie Bescheid sagen sollen, wenn sich jemand darüber hinwegsetzt.

  1. Welche Anzeichen auf sexuellen Missbrauch könnte es geben, damit ich als Elternteil zumindest hellhörig werde und der Sache nachgehe?

Es gibt kaum spezifische Anzeichen für Missbrauch, aber es gibt oft Veränderungen im Verhalten eines betroffenen Kindes. Manches Kind wird plötzlich still und verschlossen, ein anderes eher aggressiv, wieder andere weichen den Eltern kaum mehr von der Seite. Wichtig ist, dass Eltern Veränderungen überhaupt bemerken, auf ihr Bauchgefühl hören und mit ihrem Kind darüber sprechen. Sie sollten – ohne Druck auszuüben – zeigen, dass sie wissen wollen, was ihr Kind bedrückt – egal was es ist. Wenn Eltern vermitteln, dass sie belastbar und geduldig sind, dann haben sie eine Chance, dass sich ihr Kind ihnen anvertraut. Ich rate auch dazu, bei einem komischen Bauchgefühl oder einem Verdacht die Hilfe von Fachberatungsstellen in Anspruch zu nehmen. Bei der Suche nach einem geeigneten Ansprechpartner können sich Eltern, aber auch Betroffene, weitere Angehörige und Fachkräfte an unser Hilfetelefon und unser Hilfeportal Sexueller Missbrauch wenden.

www.hilfeportal-missbrauch.de

Christine Schniedermann Autorin

Christine Schniedermann ist Mutter, freie Journalistin und Autorin

www.muensterlandroman.de